Noch zwanzig, höchstens dreißig Jahre, dann ist es soweit. Die heute 50jährigen werden noch miterleben, dass ein großer Teil heute völlig normaler beruflicher Tätigkeiten nicht mehr existiert. Ob man dies definiert als großartige Zukunftsperspektive oder als bösen Geist, der aus einer nicht mehr zu schließenden Flasche entweicht, kommt auf die individuellen Perspektive und Chancen an. Nur Aufhalten lässt sich der Prozess nicht mehr, im Gegenteil, er beschleunigt sich von Jahr zu Jahr.
Glauben Sie daran, dass in 20 Jahren Landwirte ihre Traktoren noch selbst über den Acker steuern, dass Sie von Taxifahrern aus Fleisch und Blut zum Theater gefahren oder ein menschlicher Arzt Ihren gesundheitlichen Zustand analysiert? Welche Situation sollte einen Computer überfordern, der einen Airbus über den Atlantik fliegt, wenn dieser das Wissen aus Millionen von Flugbewegungen, Wetterdaten und Strömungsverläufen nicht nur gespeichert hat, sondern daraus in Millisekunden jede neue Situation und ihre Handlungsoptionen berechnen kann? Meinen Sie das in 20 Jahren Studenten noch von Professoren mit begrenzter rhetorischer Fähigkeit unterrichtet werden oder nicht eher von virtuellen Lehrkräften, die nicht nur über ein unbegrenztes Fachwissen verfügen, sondern dies auch noch individuell, auf jeden Studenten zugeschnitten hervorragend vermitteln können, im Zweifelsfall mit in Sekundenbruchteilen entstehenden zusätzlichen Grafiken und Bildern?
Ingenieure, die komplexe Maschinen oder Statiken für Häuser längst mit Hilfe aufwändiger Visualisierungsprogramme entwerfen, werden nur noch zum definieren einer Aufgabenstellung gebraucht werden – wenn überhaupt. Die Versuche, das Bezahlen im Supermarkt durch den Käufer selbstständig an einer Scannerkasse durchführen zu lassen ist dagegen schon veraltet, bevor es sich durchsetzen konnte. Der Supermarkt der Zukunft schickt die Einkäufe mit dem selbstfahrenden Elektrolieferwagen nach Hause – nur die Briefkästen müssen endlich zu einer DHL-kompatiblen Größe reifen. Wer partout noch selbst einkaufen gehen will verlässt den kassenlosen Markt einfach, der Einkauf wird per Scanner erfasst und der richtige Betrag automatisch abgebucht. Eine nostalgisch anmutende Kasse wird bleiben, wenn man klingelt, eilt eine ältere Verkäuferin herbei, die sich mit dieser Technik noch auskennt.
Bis zu diesen Grenzen bringt die Künstliche Intelligenz augenscheinlich nur Vorteile für die Gesellschaft. Medizinische Analysen werden schneller und treffender, Baupläne genauer und preiswerter und durch selbstfahrene Wagen sinkt nach anfänglichen Rückschlägen die Unfallgefahr fast auf null. Diese erste Stufe der „KI“ wird bereits eingesetzt, ist aber oft noch regelunterstützt und nicht sonderlich spannend. Schwierigkeiten bereitet noch die zweite Phase, in der sich die Künstliche Intelligenz menschliches Wissen nicht nur aneignet, sondern auch Prozesse daran ausrichten kann. Wer eine Orangen-Allergie hat sollte durch einen sanften Warnton am Ausgang des Marktes aufmerksam gemacht werden, wenn er aus Versehen doch welche gekauft hat. Der virtuelle Professor sollte wissen, dass am Morgen nach der Semesterfeier schwierige Vorlesungsthemen zu vermeiden sind und sich mit einer Wiederholung der vergangenen Vorlesung begnügen. Das selbstfahrene Taxi müsste wissen, dass sein Fahrgast aus dem Ausland ist und deswegen den etwas längeren, aber schöneren Weg vorbei an zwei Sehenswürdigkeiten der Stadt wählen.
Noch fällt es dem Rechner schwer, zwei oder drei bekannte Fakten zusammenzufassen, zu interpretieren und dann die vernünftigste Entscheidung zu treffen. Die Gleichung das a+b=c ist fordert den Rechner nicht, aus a+b+x das richtige Ergebnis zu bilden ist in vielen Situationen bislang dem leistungstärkstem, bekannten Computer vorbehalten, dem menschlichen Gehirn. Während schon heute kaum vorstellbar ist das ein Pilot in wenigen Jahren normale Flüge einschließlich Landung perfekter absolvieren kann als ein digitaler Pilot ändert sich die Annahme sofort, wenn das unbekannte Ereignis in Form eines medizinischen Notfalls an Bord eintritt. Landen oder nicht landen, fliegen oder nicht weiter fliegen. Diese zweite Entwicklungsstufe der Künstlichen Intelligenz verlangt Unmengen eines wertvollen Treibstoffes: Daten. Je persönlicher und detaillierter Daten sind, desto umfassender kann die Künstliche Intelligenz die Gesellschaft verändern. Ohne Daten geht nichts.
Google, Facebook, Whatsapp, Amazon oder Twitter verfolgen kein anderes Ziel, als sich möglichst viel dieses zukünftigen Rohstoffes zu sichern. Vordergründig sind sie Suchmaschinen oder soziale Netze, in Wirklichkeit sind sie längst digitale Profiler, die in wenigen Jahren aus Kombinationen und Abgleichen eine Person mit all ihren Fähigkeiten und Vorlieben wesentlich besser beschreiben können als es ein real existierender Lebenspartner je könnte. Noch müssen die Digitalkonzerne ihren Programmen beibringen was es heißt, wenn ein Nutzer entgegen allen Erwartungen und Algorithmen eine bestimmte Handlung nicht vornimmt. Dies wird erst die Integration menschlichen Wissens in die digitalen Hirne möglich machen. Der Mensch kann mit unlogischen, nicht mathematischen Verhaltensweisen seiner Artgenossen umgehen, die Maschine noch nicht. Die Maschine kann erst begrenzt kreativ sein, zumindest einige Jahre noch.
(Wolfgang Zehrt, Berlin)
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